... Jetzt, wo die Grossmutter nicht mehr da war, sah er keinen Sinn mehr darin, nach Kiel zu gehen. Als der Sommer kam, blieb er allein in der grossen Stadt, während der Rest der Familie sich wie gewöhnlich in Kiel traf. Er war allein, wie man es nur in einer grossen Stadt sein kann, wenn alle Freunde abgereist und die Strassen voller Touristen sind, dass du dir – ob du willst oder nicht - auch wie ein Tourist vorkommst.
In Rom war es jeden Sommer heiss, aber dieser Sommer war ganz besonders heiss. Er schwitzte, wie man im August in Rom eben schwitzt. Der Tag war dermassen heiss, dass er glaubte, Fieber zu haben. Er wollte die Einsamkeit geniessen, aber stattdessen überfiel ihn die Nostalgie und er begriff, dass die Nostalgie ihre Wurzeln micht in der Vergangenheit hat, sondern in der Zukunft, in der Zukunft, die nicht mehr kommt, weil die Gegenwart verwunschen ist, erstarrt, sie will nicht mehr weiterfliessen, und du merkst, dass die Menschen, die gegangen sind, verloren in Zeit und Raum… die Menschen, die Andere sind als du, die ihr Leben anderswo leben oder tot sind, sie haben in dir ihr Ebenbild hinterlassen, das lebt in dir und frisst dir die Seele auf und geht einfach nie weg, verblasst nie, im Gegenteil: das Ebenbild wird immer grösser, immer grösser, so gross, dass du schreien musst: warum trittst du nicht aus, aus meinem Mund, mit meinem Atem, hier vor mich hin, dass ich dich sehen kann, dich umarmen kann, dich berühren kann! Warum krallst du dich in mir fest, quälst mich wie ein Geist, ein Dämon, tritt aus! Lebe, oder lös dich in Luft auf, verschwinde für immer, aber lass mich in Ruhe, lass mich allein, weil die Einsamkeit schön ist, die Einsamkeit ist Frieden, die Einsamkeit ist Erhabenheit, aber wenn die Melancholie in deine Seele einsickert und sie mit Gespenstern füllt: Das ist Qual, Zermürbung, Zerfleischung ohne Ende.
Und so irrte er durch die Stadt, zufällig, wo ihn die Beine gerade hintrugen, gebeutelt von allertiefster Verzweiflung, und dabei geriet er in die Nähe des Vatikans und wen sah er da, in stiller Andacht die Sixtinische Kapelle betrachten?
Krishan, also Klishàn, also den vom Kindergarten, von der Ecole Maternelle, den aus Paris, den dunklen mit den schwarzen Haaren und schwarzen Augen, mein Urahn, sozusagen…Zwar, er erkannte ihn nicht sofort, und auch Klishàn erkannte ihn nicht sofort, aber sie fühlten sich unwiderstehlich voneinander angezogen, wie zwei Pole eines Magnets, sie starrten sich eine zeitlang vorsichtig an, was will denn der...aber auf einmal explodierten sie in einem Schrei: “Klishàn/Krishàn, quel combination, so ein Zufall, ich glaubs nicht, spinn ich! So eine Freude, ce la Fete, was für ein Zusammentreffen, und was machst du und wo wohnst du und was arbeitest du, du studierst, ach was, und deine Familie und sag mir und Umarmungen und während sie gehen und reden, erreichen sie die Villa Borghese und quatschen und gehen durch den Park und sehen unter einem schattigen grossen Baum (ich glaube sogar, dass es ein Baobab war) einen Karton auf dem Boden liegen, den wahrscheinlich ein Penner als Schlaflager benutzt hat und Klishàn wirft sich drauf und sagt: “Komm, Krishàn, lass uns fliegen” und sie flogen, sie flogen, verrückt von Glück über die ewige Stadt, über die ewige Welt, den ewigen Hunger und Durst, weg, verloren im unendlichen Blau des ewigen Himmels.
Manchmal, wenn ich mich am Morgen vor dem Spiegel rasiere, kommt es mir so vor, als sähe ich einen kleinen schwarzen Punkt, mal in dem einen, mal in dem anderen Auge, ganz am Rande des Blaus und ich weiss sofort, dass sie es sind und ich winke ihnen zu, mit der Hand, so ...
... Wir fliegenden Händler dürfen da ja nicht mehr rein, leider, wir müssen unsere Getränke und unsere Brötchen draussen vor dem Stadion verkaufen. Drinnen ist es verboten, Sicherheitsbestimmungen. Alle reden von freier Marktwirtschaft, nichts soll der freien Konkurrenz im Weg stehen! Aber versuch’ du mal mit einer Bierdose da rein zu gehen! Um Himmelswillen! Als wenn’s eine Bombe wäre!
Jaja, meine Oma hatte damals noch die Erlaubnis im Stadion ihre Sachen zu verkaufen. Während des Spiels!
Das waren noch Zeiten! Kaum pfiff der Schiedsrichter das Spiel an, lebten die Zuschauer auf den Tribünen plötzlich auf, ein Zittern lief durch die Menge, als käme ein frischer Wind auf, wie die Segel eines riesigen, wunderbaren Schiffes, das hinaus ins offene Meer sticht, und die Händler kletterten die Tribüne hoch und runter, flink wie Matrosen, die zwischen den Segeln auf und ab fliegen. Wenn das Spiel langweilig wurde, hing das Publikum müde in den Seilen, schlaff wie Segel in der Flaute, aber beim geringsten Windstoss spannte sich das Segel wieder, blähte sich; und wenn auf dem Platz ein Gewitter tobte und ein Tor fiel, dann konnte es passieren, dass die Segel in den brausenden Gefühlsstürmen zerfetzt wurden und die Fetzen flatterten von der Tribüne hinunter und alle rannten aufs Spielfeld, Männer, Kinder, Frauen, Hunde, Trainer, Hühner, und alle umarmten einander überglücklich und sprangen herum auf dieser grünen Wiese und das frische Gras duftete, ein Riesengaudi und nach einer Weile gingen sie heiter drauflosplaudernd wieder zurück auf ihre Plätze und das Spiel konnte weiter gehen…
Heldenzeiten waren das!
Und was haben wir jetzt? Motorisierte Verkaufswagen! Satelliten-gesteuerte Navigationssysteme! Das ist ja keine Kunst, die Waren hier vor dem Stadion zu verkaufen! Aber während des Spiels, im Stadion: Ha, da musste man ein schon ein Profi sein, das war ein eigener Beruf, das verlangte Können, Wissenschaft, ja, Zauberei! Meine Oma beherrschte sogar einen Zaubertrick: sie konnte sich unsichtbar machen!
“Nicht ich werde unsichtbar, piccina mia,’ Pflegte sie immer zu sagen, „es sind die Zuschauer, die den Zauber machen:
Die gegnerische Mannschaft stürzt sich gegen unser Tor, wir verteidigen uns wie die Löwen, aber es bleibt gefährlich, die anderen lassen nicht locker. In diesem Moment halte ich eine Bierdose so hoch, eine solche Situation macht durstig, die Zuschauer sehen die Dose aus dem Augenwinkel, ohne ihrem Blick vom Spiel zu lösen, sie dürfen in ihrer Konzentration nicht nachlassen, auch nicht eine Millisekunde, sonst könnte der Gegner, zack, das Loch in der Aufmerksamkeit entdecken und, bam, den Ball durch diese Lücke hindurch ins Tor schiessen. Also mische ich mich unter sie, um ihnen das Bier zu bringen, ich öffne es, reiche es in ihre blinden Hände, nehme das Geld, zähle das Wechselgeld und lege es in ihre Geldbörse. Sie sehen mich nicht, ich bin durchsichtig! Ich renne zwischen all diesen Männern herum, frei wie der Wind, keiner bemerkt mich, sie sehen nur das in der Luft schwebende Bier und das Spiel. Ich kann Grimassen schneiden, die Zunge herausstrecken, ich könnte nackt herumlaufen...ich bin unsichtbar! Was war das für ein wunderbares Gefühl! ...